Chemie 4.0 – Fokus auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit
Die deutsche Chemieindustrie blickt auf eine mehr als 150-jährige Geschichte zurück. Aktuell steht sie mitten im Wandel der vierten Generation. Hier bestimmen die Megatrends Umweltschutz und Digitalisierung die Geschicke der Unternehmenslenker. Der Verband der deutschen Chemieindustrie (VCI) hat in seiner jüngsten Studie den Wandel analysiert.
01.06.2018, Günter Heismann
Die Chemieindustrie steht vor einschneidenden Umwälzungen. Gegenwärtig erlebt die Branche den vierten Umbruch in ihrer Geschichte, nach der Gründerzeit im 19. Jahrhundert, der Umstellung auf Petrochemie nach dem Zweiten Weltkrieg und der Globalisierung, die um 1980 herum einsetzte. Zwei Megatrends prägen die Chemie 4.0. Dies ist zum einen die Digitalisierung, die alle Bereiche in den Unternehmen und die Beziehungen zu Kunden und Lieferanten von Grund auf ändern wird, und zum anderen die Kreislaufwirtschaft, also eine auf Nachhaltigkeit abzielende, die natürlichen Ressourcen und das Klima schonende Wirtschaftsweise. Das sind die zentralen Ergebnisse einer Studie, die der VCI gemeinsam mit der Consulting-Gesellschaft Deloitte durchgeführt hat.
Die Autoren identifizieren im Einzelnen 30 technologische Trends, die Geschäftsmodelle und Unternehmensstrategien in der gesamten Branche verändern werden. Ein Beispiel ist die Agrochemie. Neben Kunstdünger, Saatgut und Pflanzenschutzmittel stehen mittlerweile intelligente Dienstleistungen im Produktportfolio. Smart Farming ist die intelligente Art der Landwirtschaft, die im besten Fall ökonomische und ökologische Kriterien optimal verknüpft. Hierzu gehören Apps, mit denen die Landwirte auf dem Feld feststellen können, ob ihr Weizen von Krankheiten befallen ist und welche Schädlinge hierfür verantwortlich sein
Smart und individualisiert: Big Data in der Medizin
In der Medizintechnik steht die Digitalisierung unter dem Trend der „Personalisierten Medizin“. Es bedeutet, dass Therapien individuell zugeschnitten auf die Bedürfnisse des einzelnen Patienten entwickelt werden. Voraussetzung ist die Erfassung und Auswertung immenser Daten, für die zunehmend Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) eingesetzt werden. Die Speicherung derartiger Patientendaten erlaubt es ebenfalls, per 3-D-Drucker Implantate passgenau anzufertigen.
Neben der Digitalisierung sind geschlossene Rohstoff-Kreisläufe das zweite große Thema der Chemie 4.0. Mit Recycling haben die Unternehmen bereits sehr viel Erfahrung gesammelt. Künftig werden sie vermehrt erneuerbare Rohstoffe einsetzen, biologisch abbaubare Produkte entwickeln und Hochleistungswerkstoffe anbieten, die den Ressourcenverbrauch bei den Kunden verringern.
Neue Kooperationspartnerschaften gefragt
Damit die Potenziale der nachhaltigen Wirtschaft optimal ausgeschöpft werden können, müssen die Chemieunternehmen auf innovative Weise mit völlig neuen Geschäftspartnern zusammenarbeiten. Die Energieversorger kämpfen beispielsweise mit dem Problem, dass die Erzeugung von Windstrom starken Schwankungen unterliegt. Der überschüssige Strom könnte künftig dazu genutzt werden, per Elektrolyse Wasserstoff zu erzeugen, der sich wiederum als Rohstoff in der Chemie verwenden lässt.
Für solche übergreifenden Kooperationen, die in der Chemie 4.0 unverzichtbar sind, hat Deutschland dank seiner starken Industriestruktur beste Voraussetzungen. Zum einen ist die chemische Industrie hierzulande breit gefächert und tief gestaffelt. Sie umfasst alle Verarbeitungsstufen und Segmente der Branche. Oft sind die Betriebe in räumlichen Clustern gebündelt wie dem Industriepark Frankfurt-Höchst. Kunden und Lieferanten befinden sich dort in unmittelbarer Nähe. Dies begünstigt neue Formen der Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern, sei es bei der Digitalisierung oder bei der nachhaltigen Produktion.
Vorbild Chemieanlagenbau
Obendrein sind hierzulande auch jene Industriebranchen prominent vertreten, mit denen die Chemieindustrie künftig noch enger als bisher zusammenarbeiten muss. Der deutsche Chemieanlagenbau ist international Markt- und Technologieführer; er verfügt über die nötige Expertise und Kompetenz, um innovative Verfahren für eine umweltfreundliche Produktion zu entwickeln. Und im Maschinenbau wird mit Hochdruck an der Entwicklung von 3D-Druckern gearbeitet, die in der Chemie eingesetzt werden können.
Zudem sind in Deutschland wichtige Kunden der Branche ansässig, wie zum Beispiel die Autohersteller. Sie stehen vor zwei Herausforderungen, die die Unternehmen nur gemeinsam mit der Chemie bewältigen können. Das ist einerseits die Entwicklung von Leichtbauwerkstoffen, mit denen sich der Kraftstoffverbrauch senken lässt. Zum anderen ist die Reichweite von Elektroautos heute noch zu gering. Damit sich die Elektromobilität durchsetzen kann, müssen Autohersteller und Chemieunternehmen zusammen leistungsfähigere neue Batterien entwickeln.
Austausch von Wissen im Vorfeld des Wettbewerbs
Um die Entwicklung dieser Speichertechnologien zu beschleunigen, wurde die Nationale Plattform Elektromobilität gegründet. Eine solche Kooperation, die dem Austausch von Wissen im Vorfeld des Wettbewerbs dient, könnte laut der VCI-Studie Vorbild für andere Themen sein, auf die sich die Unternehmen im Zuge von Chemie 4.0 vorbereiten müssen. Derartige Lernplattformen können beispielsweise in einem Chemiepark angesiedelt werden, wo sich bereits zahlreiche potentielle Partner niedergelassen haben und ein neutraler, unabhängiger Betreiber zur Verfügung stünde.
Chemie 4.0 im Mittelstand – Ergebnisse einer Umfrage
Den Herausforderungen der Chemie 4.0 stellen sich nicht nur die Großunternehmen, die in der Öffentlichkeit das Bild der Chemieindustrie prägen. Offen für Digitalisierung und Nachhaltigkeit zeigt sich auch der Mittelstand, eine tragende Säule der Branche in Deutschland. Dies ergab eine Umfrage der Consulting-Gesellschaft Deloitte bei 124 kleinen und mittleren Firmen aus allen Segmenten der chemisch-pharmazeutischen Industrie. 82 Prozent der befragten Führungskräfte gaben an, dass neue Produkte für ihr Unternehmen eine große oder sehr große Bedeutung hätte. Prozessinnovationen spielen für 60 Prozent eine wichtige Rolle.
Mehr als die Hälfte der befragten Top-Manager befassen sich intensiv mit den Auswirkungen der Informationstechnologie auf ihr Unternehmen. 18 Prozent der Firmen haben bereits eine Digitalisierungsstrategie ausgearbeitet, knapp ein Drittel plant dies. Doch es muss noch viel getan werden, bis alle Unternehmen am Ziel sind. Lediglich ein Viertel der Mittelständler fühlt sich gut auf die fortschreitende Digitalisierung vorbereitet. 30 Prozent der teilnehmenden Firmen sehen hingegen noch erheblichen Handlungsbedarf. Die Sorge um den Schutz sensibler Firmendaten und die Knappheit an IT-Fachkräften hemmen vielerorts die Entwicklung.
Neben der Digitalisierung beschäftigen sich die Mittelständler ebenfalls eingehend mit dem zweiten Megatrend in der chemischen Industrie – der Einführung einer zirkulären Wirtschaft zum Schutz von Umwelt und Ressourcen. Knapp 40 Prozent der Unternehmen haben bereits eine Strategie für nachhaltige Produktion eingeführt; weitere 25 Prozent planen dies. Doch auch bei diesem Thema sehen knapp 30 Prozent der mittelständischen Unternehmen, die der VCI befragt hat, noch Handlungsbedarf.
Der Artikel erschien ursprünglich 2018 in der perspectives #5, Themen-Special: Wandel
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