Mehr Klimaschutz durch digitale Technologien?

Innovative Technologien können beim Reduzieren von Treibhausgasen helfen – aber es gibt auch Stimmen in der Fachwelt, die vor zu viel Optimismus warnen und sogar den gegenteiligen Effekt befürchten.

Von Hajo Hoffmann

Wer sagt denn, dass Wearables nur für Menschen gedacht sind? Ein digitales Produkt könnte künftig die Kuhglocke ersetzen – zumindest wenn es nach den Plänen eines britischen Start-ups geht. Angelegt wie ein Halfter, misst das Accessoire den Gehalt des Treibhausgases Methan im Atem des Paarhufers, solarbetriebene Batterien treiben Lüfter an und reduzieren die Emissionen pro Rind um über die Hälfte, verspricht der Hersteller. Ein integrierter GPS-Empfänger sagt dem modernen Landwirt, wo er Tier und Technik gegebenenfalls finden kann.

Das Beispiel findet sich in einer Studie, die der Digitalbranchenverband Bitkom kürzlich vorgelegt hat. Das im Auftrag des Verbands vom Beratungsunternehmen Accenture erstellte Papier mit dem Titel "Klimaeffekte der Digitalisierung" (PDF) soll belegen, dass sich die Digitalisierung als kraftvoller Helfer beim Kampf gegen die Aufheizung der Atmosphäre anbietet. Die Autoren haben dabei sieben Anwendungsbereiche identifiziert, in denen sie den größten Effekt erwarten – mit abnehmendem Potenzial sind dies, auch abhängig vom Tempo der Digitalisierung: Fertigung, Mobilität, Energie, Gebäude, Arbeit und Business, Landwirtschaft und schließlich Gesundheit.

Quelle: Bitkom-Studie „Klimaeffekte der Digitalisierung“, durchgeführt von Accenture, 2021

„Digitale Zwillinge“ reduzieren CO2-Emissionen

Als aussichtsreiches Terrain für Spareffekte durch die Digitalisierung haben die Forscher die industrielle Herstellung ermittelt, wo vor allem Vernetzung, Automatisierung und der Einsatz „digitaler Zwillinge“ für eine effektivere Produktion und damit weniger Emissionen sorgen sollen. Ein Beispiel hierzu stammt aus dem Pharmakonzern Sanofi, der mit der Technologie des digitalen Zwillings – also einer parallelen Simulation des Produktionsprozesses im Computer – die Herstellung von Medikamenten optimiert. So helfen die Erfassung von Daten und deren Analyse in Echtzeit im US-amerikanischen Werk Framingham bereits dabei, Abweichungen im Produktionsprozess vorherzusehen und zu vermeiden.

Darüber hinaus erlauben es digitale Zwillinge, die Herstellung individualisierter Medikamente virtuell zu testen, bevor sie auf den echten Maschinen anläuft. Das erwartete Reduktionspotenzial ist enorm – „circa 80 Prozent des Energieverbrauchs sowie der CO2e-Emissionen können durch den systematischen Einsatz digitaler Zwillinge reduziert werden“, heißt es dazu in der Studie mit Verweis auf eine Veröffentlichung von Sanofi.

Nach dem erfolgten Start in Framingham kommt die Technologie nach und nach konzernweit zum Einsatz.

Intelligente Mobilität, Smart Grids & Telemedizin

Beim Verkehr ruhen die Hoffnungen auf digital optimierten Routen und besser ausgelasteten Transportmitteln für Menschen und Güter. Die Autoren der Studie führen das Beispiel Oslo an, wo es gelungen sei, durch informationstechnisch optimierte Services den Anteil der Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf 44 Prozent zu steigern – der nationale Durchschnitt liegt bei 21 Prozent.

Auch beim Sparen von Energie helfen smarte Systeme: Heizungen lassen sich genauer steuern, Straßenlampen passen ihre Helligkeit dem tatsächlichen Bedarf an, statt sich nach starr programmierten Zeiten zu richten. Ohne Digitalisierung gar nicht denkbar wäre eine Elektrizitätsversorgung durch intelligent gesteuerte Netze, die sogenannten Smart Grids, die das komplizierte Wechselspiel von Energieangebot und -nachfrage austarieren.

In der Arbeitswelt und dem Alltag sollen Homeoffice und digitale Services wie Homebanking Wege sparen, ähnlich wie auf dem Gebiet des Gesundheitswesens die Telemedizin. Die Autoren verweisen auf ein Beispiel aus einer Region Kataloniens, wo innerhalb eines Jahres über 9.000 persönliche Arztbesuche durch Diagnosen auf der Basis von Bildmaterial vermieden werden konnten.

Fazit der Bitkom-Studie: Der Einsatz digitaler Technologien könnte 129 Megatonnen Kohlendioxid (CO2) und CO2-Äquivalente – das sind in CO2 umgerechnete andere Treibhausgase – einsparen und damit etwa die Hälfte zum Erreichen der deutschen Klimaziele bis 2030 beitragen. Brutto – also ohne Abzug des Mehrverbrauchs durch die Digitalisierung selbst – ließe sich jede fünfte Tonne an Kohlendioxidäquivalenten einsparen.

Experten fordern eine „andere Digitalisierung“

Die Frage ist: Werden die Versprechen zu halten sein? Skeptiker rechnen vor: Die nötigen Computer und die digitalen Prozesse verschlingen selbst eine Menge Energie, die Entmaterialisierung ist nicht zum ökologischen Nulltarif zu haben. Ein E-Book-Reader etwa lohnt sich nur, wenn darauf mindestens ein paar Dutzend Bücher gelesen werden, sagt die Öko-Bilanz.

Und obwohl es schon längst digitale Services wie Online-Shopping, Streaming, Videokonferenzen und Telearbeit gibt, hat der Straßenverkehr nicht ab-, sondern zugenommen. Dann wäre da noch der sogenannte Rebound-Effekt:

Digitale Technologie macht Produkte und Services für Nutzer attraktiver – das aber ist ein Anreiz zum Konsumieren, nicht zum Sparen.

Kritische Einwände wie diese hat Tilman Santarius, Professor für nachhaltige Digitalisierung an der TU Berlin, zusammen mit Co-Autor Steffen Lange vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in dem Buch „Smarte grüne Welt?“ zusammengestellt. Das Fragezeichen im Titel ist nach Einschätzung der Autoren begründet. Zu den Hoffnungen etwa, die sich an Effizienzgewinne durch Industrie 4.0 knüpfen, schreiben sie, es lägen „weder international noch in Deutschland Untersuchungen – geschweige denn wissenschaftliche belastbare Studien – vor, die diese Erwartungen in irgendeiner Weise bestätigen könnten. Die optimistischen Aussagen aus Wirtschaft und Politik sind damit nicht mehr als Hoffnungen.“

Aus Sicht kritischer Experten ist es ein Irrtum anzunehmen, dass der Einsatz digitaler Technologie automatisch eine klimaschützende Wirkung hat – teilweise befürchten sie sogar das Gegenteil und fordern daher, wie Santarius und Lange, „eine andere Digitalisierung“ nach dem Motto:

„So viel Digitalisierung wie nötig, so wenig wie möglich“.

Das steht also durchaus dem entgegen, was die Vertreter der IKT-Branche vorschlagen. Da aber auch die Autoren der Bitkom-Studie eine „gezielte und mutige Flankierung durch die Politik“ fordern, dürfte beide Lager – Optimisten wie Skeptiker – immerhin die Annahme verbinden, dass intelligente Technologie Politik und Wirtschaft nicht der Aufgabe enthebt, sie auch intelligent einzusetzen.

Bitkom-Studie „Klimaeffekte der Digitalisierung", durchgeführt von Accenture, 2021

*CO2e = Kohlenstoffdioxidäquivalente (Die Treibhausgase werden entsprechend ihrer klimaschädlichen Wirkung in die Berechnungsgröße CO2 „übersetzt“) / **Die Emissionen im Jahr 2019 wurden nach Fertigstellung der Studie vom Umweltbundesamt auf 810 MT CO2e korrigiert

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