Das Licht in der digitalen Finsternis

„The New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft“. Der Buchtitel trifft den Geschmack vieler Digitalisierungskritiker. Doch James Bridles Bestseller ist alles andere als eine Kritik am digitalen Fortschritt und einer Entmenschlichung der Welt. Nicht die Technologie sei die Gefahr, sondern der Verlust des Menschen zu denken, auch wenn er die Komplexität der Welt nicht verstehen könne.

22.05.2020, eine Rezension von Christiane Zimmer

Leben wir in einem dunklen Zeitalter, in dem die künstliche Intelligenz die geistige Selbstbestimmtheit des Menschen Schritt für Schritt untergräbt? Digitalisierungsskeptiker würden dem gewiss zustimmen. Schließlich möchte man meinen, dass die digitalen Suchmaschinen uns besser kennen, als wir uns selbst. Der Mensch hat sie so erzogen, dass sie sein Leben nicht nur erleichtern, sondern sogar bestimmen könnten. Google kennt unseren Kleidungsstil und unsere Hobbys. Dank Online-Marketing ploppt im täglichen Newsblog immer genau die Werbung auf, die uns zu neuen Einkäufen inspiriert. Natürlich nur solange wir den Adblocker nicht ausstellen und die Cookies und Browserverläufe nicht löschen. Wir hinterlassen „freiwillig“ an diversen Orten unseren digitalen Fingerabdruck und wundern uns, warum die künstliche Intelligenz so intelligent werden kann.

Die Geschichte des Datendenkens

„Die Geister die ich rief, die werd‘ ich nimmer los“, heißt es in Goethes Gedicht „Der Zauberlehrling“. Deutschlands größter Dichter und Denker hat seine Ballade 1797 verfasst hat. Das Digitalisierungsgespenst war damals nicht vorhersehbar. Oder doch? Eine Lesart des Zauberlehrlings beschreibt nämlich die menschliche Hybris. Wir wollen alles haben. Uns das Leben leicht machen. Wenn wir es haben, wissen wir es nicht mehr abzustellen. So geht es mit der Digitalisierung. Es ist eine schöne neue Welt, die vieles erleichtert. Doch wo Licht ist, ist auch Dunkelheit. Von dieser Dunkelheit handelt der Bestseller von James Bridle. In „The New Dark Age“ legt er die Geschichte des Datendenkens offen. Die dunkle Seite der Technologie. Bridle ist aber keineswegs ein Digitalisierungsskeptiker, auch wenn er in der Szene als Popstar gefeiert wird. Der 40-Jährige Brite ist Autor, bildender Künstler und Informatiker. Eine seltene Mischung. Aber vielleicht gerade die richtige, um Digitalisierungsgegnern wie -befürwortern den Spiegel vorzuhalten. Das tut er in seinem Buch.

„Die Fähigkeit zu denken, ohne zu behaupten oder gar danach zu streben, etwas völlig zu verstehen, ist der Schlüssel zum Überleben in einem New Dark Age, einem neuen finsteren Zeitalter, denn wie wir sehen werden, ist Verstehen oftmals unmöglich.“

James Bridle, The New Dark Age, 2019

„The New Dark Age“ ist kein dystopisches Buch, das die Technologien des 21. Jahrhunderts verteufelt. Er zeigt, was passiert, wenn der Mensch das kritische Denken vernachlässigt und damit dem eignen menschlichen Fehlverhalten den Weg bereitet. Er erzählt von der transparenten Dunkelheit, die der Mensch zulässt. Bridle berichtet etwa von einem der ersten Supercomputer von IBM. Er wurde Ende der 1940er Jahre in New York installiert. Für die Öffentlichkeit bestens sichtbar im Schaufenster eines ehemaligen Damenschuhgeschäft. Alles transparent. Die Maschine sollte „Wissenschaftler in Lerneinrichtungen, in der Regierung und in der Industrie dabei unterstützen, die Folgen menschlichen Denkens bis in die äußersten Bereich von Zeit, Raum und physischen Bedingungen zu erkunden.“ Was die am Schaufenster vorbei flanierende Öffentlichkeit nicht wusste: Auf dem Supercomputer liefen ganz andere mathematische Verknüpfungen. Er errechnete vor den Augen der Öffentlichkeit Simulationen einer Wasserstoffbombensimulation. Sie wurden 1952 erfolgreich getestet.

In der Gegenwart ist es kaum anders. Wir sehen, was digitale Technologien können. Wir schauen zu und verstehen dennoch nicht, was passiert. Bridle erzählt von Youtube-Videos, die millionenfach angeklickt werden. Es sind Clips für Kinder, die Eltern ihre drei- bis zehnjährigen Kindern wahrscheinlich ahnungslos auf den Tablets oder Smartphones anschauen lassen. Die Filme fangen meist harmlos an. Doch dann massakrieren sich die lieblichen Comic-Helden gegenseitig. Ein Alptraum für Kinder und den Glauben an die gute Welt. Ob die Filme von einer künstlichen Intelligenz oder „hand-made“ in irgendwelchen Hinterhof-Butzen entwickelt werden, ist dabei nebensächlich. Denn beides wäre gleichsam ethisch und moralisch unwürdig. Viel kritischer ist ihre Existenz per se. Die digitalen Technologien geben den menschlichen Abgründen nicht nur ihre Nahrung, sondern ihr unreflektierter Konsum und die Produktion neuer Daten durch den Menschen lassen diese Daten immer weiter wachsen. Dabei, so betont Bridle, sei das Wissen über die Möglichkeiten des technologischen Vermögens heute durchaus zugänglich. Anders als in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.

Jeder Schritt kann überwacht werden.

Alles, was Computer betrifft, müsse als Code geschrieben und gespeichert werden. Das impliziert, dass der Code auch geknackt werden kann. Das gelte auch für die Überwachung der Massen. Jeder Schritt kann theoretisch aufgezeichnet werden. Doch weil das den meisten Menschen klar ist, wollen sie lieber nicht darüber denken. Genau dieser Umstand, so Bridle, mache die neue Welt so finster. Dabei könne man sich gegen Massenüberwachung und damit eine Übermacht der dunklen Seite der Digitalisierung wehren. Verschlüsselungssysteme gebe es genug.

Jeder Schritt kann überwacht werden.

„Daten sind das neue Öl.“ Den gern verwendeten Vergleich von Daten und Öl als Zeichen der Macht, den 2006 der Mathematiker Clive Humbly geprägt hat, bricht Bridle ebenfalls auf. Das Problem seien nicht die Daten. Unverarbeitet könne man mit Daten ebenso wenig anfangen wie mit Öl, schreibt der Informatiker. Beides sind Rohstoffe. Das Problem sei, „dass die Betonung der Arbeit, die erforderlich ist, um Informationen nutzbar zu machen, über die Jahre verloren ging, und an ihre Stelle trat, unterstützt durch Rechenleistung und maschinelle Intelligenz, reine Spekulation.“ Spekulation deshalb, weil der Mensch die Komplexität, die sich mit den zunehmenden Datenmengen aufbaut, gar nicht verstehen könne. Vielmehr gehe es darum, in einem New Dark Age – „einem Ort, wo die Zukunft radikal ungewiss ist und die Vergangenheit unwiderruflich umkämpft ist, wo wir jedoch in der Lage sind, das, was vor uns liegt, unmittelbar anzusprechen, klar zu denken und gerecht zu handeln.“

Letztendlich ermutigt Bridle seine Leser zum Denken – ganz im Sinn des großen französischen Philosophen und Aufklärers René Descartes. Dieser ist vor mehr als 200 Jahren nach radikalem Zweifel an seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit zu dem für ihn unerschütterlichen Fundament des menschlichen Wesen gestoßen: „Cogito ergo sum.“ (Ich denke, also bin ich). Vielleicht ist die Fähigkeit des Menschen zu Denken das Licht, das eine sonst dunkle neuen Welt, braucht, um sich weiterzudrehen.

„Computer sind nicht dazu da, uns Antworten zu geben, sondern sie sind Werkzeuge, um Fragen zu stellen.“

Der Artikel erschien ursprünglich 2020 in der perspectives #7, Themen-Special: Schöne neue Welt

Bildquelle Stage: The7Dew / GettyImages

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