Der Weg in die Treibhausgasneutralität

Ende des vergangenen Jahres stellte die EU ihren „Green Deal“ vor: Bis 2050 will Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden. Dann infizierte das Coronavirus auch die Weltwirtschaft. Nicht nur Klimaforscher fordern, dass der „Green Deal“ trotzdem realisiert werden muss.

22.05.2020, Dirk Mewis

Autos ohne Abgase, Fabriken ohne Schlot, optimal gedämmte Häuser und grüne Städte: Europa soll in 30 Jahren völlig anders aussehen. Um die Überhitzung der Erde zu stoppen, will die Europäische Union ab 2050 keine neuen Treibhausgase mehr in die Atmosphäre blasen. Der Plan für dieses „klimaneutrale“ Europa 2050 soll sowohl das Klima schonen als auch Wachstumsmotor für die Union werden. Der „Green Deal“ sei mit der Vision der Mondlandung in den 1960er-Jahren vergleichbar, erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Jemand hat mal gesagt: Das ist Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment.“

Insgesamt eine Billion Euro will die EU dafür bis 2030 investieren und weltweiter Spitzenreiter bei grüner Technologie und Industrie werden. Gleichzeitig meldeten europäische Unternehmen Investitionen von rund 124 Milliarden Euro in Klimaschutztechnologien.

Dann infizierte das Coronavirus nicht nur das Gesundheitssystem. Die Airlines haben den Großteil ihrer Flüge gestrichen, Hotels und Restaurants sind leer, viele Bürogebäude geschlossen. Die ökonomischen Schäden werden voraussichtlich deutlich höher sein, wie während der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008.

Handeln, bevor man nichts mehr ausrichten kann

Hans Joachim Schellnhuber, einer von Deutschlands renommiertesten Klimaforschern, fordert dass „die EU ihren grandiosen Green Deal trotzdem realisieren muss“. Schellnhuber war bis 2018 Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“. Die Parallelen der Corona-Pandemie und der Klimakrise seien frappierend, meint Schellnhuber. „Das Virus macht genauso wie CO2 nicht an den nationalen Grenzen halt – wir haben ein Menschheitsproblem.“ Und es gebe bei der Pandemie ähnlich wie beim Klima Verzögerungseffekt und anfängliche Symptomlosigkeit bei gleichzeitig eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die man nicht dauerhaft wegschwindeln könne. Richtiges Timing sei daher alles. Man müsse handeln, bevor man gegen die enorme Wucht der Erderwärmung nicht viel ausrichten könne.

Der „Green Deal“ ist laut von der Leyen ein „Fahrplan zum Handeln“, der 50 Aktionen bis 2050 bereithalte. „Unser Ziel ist, unsere Wirtschaft mit unserem Planeten zu versöhnen und dafür zu sorgen, dass es für unsere Menschen funktioniert.“ Neben der Senkung der Treibhausgase gehe es auch darum, neue Jobs zu schaffen. Das alte Wachstumsmodell, das auf fossilen Energien und Verschmutzung gründe, habe sich überlebt.

Das Emissionshandelssystem soll deshalb ausgeweitet werden, Fliegen und Schiffstransporte teurer werden. Eine moderne Kreislaufwirtschaft soll Müll und Verschmutzung vermeiden. Geplant sind zudem neue Strategien für saubere Luft und sauberes Wasser, einen Schutz der Artenvielfalt, eine Anpassung der Landwirtschaftspolitik und eine massive Aufforstung.

„Die Unternehmen gehen davon aus, dass sie nach der Coronakrise den Ausstoß von Treibhausgasen in ihrer Produktion weiter drastisch reduzieren müssen“, ist Bernhard Lorentz, Partner bei der Unternehmungsberatung EY, überzeugt. Lorentz glaubt, der Druck auf die Unternehmen werde sogar noch wachsen. In der Krise „werden die das Rennen machen, die technologisch fortgeschritten und am weitesten auf dem Weg zur Klimaneutralität gekommen sind“. Er rät seinen Klienten, den Wandel weiter voranzutreiben. Nicht trotz, sondern wegen der aktuellen Krise.

„Das Virus macht genauso wie CO2 nicht an den nationalen Grenzen halt – wir haben ein Menschheitsproblem.“

Hans Joachim Schellnhuber, Klimaforscher

BASF: Bis 2030 klimaneutral wachsen

Die deutsche Industrie teilt, jedenfalls zum Teil, diese Einschätzung. Das gilt vor allem für Firmen, die besonders viel CO2 produzieren, und deshalb schon lange gezwungen sind, den Ausstoß von Klimagasen zu reduzieren. „Unser Klimaziel, bis 2030 klimaneutral zu wachsen, gilt unverändert“, sagt ein Sprecher des Chemiekonzerns BASF. Der Konzern hat im Vergleich zu 1990 den CO2-Ausstoß in absoluten Zahlen halbiert, während sich die Produktion etwa verdoppelt hat. Um die Emissionen weiter signifikant zu senken, muss BASF neue Technologien entwickeln, etwa die Produktion von grünem – also CO2-neutralem – Wasserstoff. Dafür hat der Konzern hohe Investitionen vorgesehen.

Diese Strategie werde weiterverfolgt, so heißt es in Ludwigshafen. Im Moment profitiert BASF wie die gesamte Industrie sogar davon, dass mit gedrosselter Produktion auch der CO2-Ausstoß sinkt. Der Preis für Emissionszertifikate, mit denen sich Firmen von der Reduktion ihres Treibhausgasausstoßes freikaufen können, ist seit dem Ausbruch der Coronakrise um rund ein Drittel gefallen.

Auch laut einer aktuellen Studie des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) ist für die Chemiebranche bis 2050 eine CO2-neutrale Produktion umsetzbar. Helfen würde bei dem Weg in die Klimaneutralität allerdings keine Flutwelle neuer Regulierungen, sondern Innovationen, erklärt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. Und realisieren lasse sich eine klimaneutrale Produktion nur mit enormen Mengen von grünem Strom zu international wettbewerbsfähigen Preisen für die Elektrifizierung der Produktionsprozesse.

Die Chemiebranche erwartet ein schwieriges Geschäftsjahr. „Die Auswirkungen der Corona-Epidemie werden die exportorientierte deutsche Industrie und damit auch die Chemie zu spüren bekommen“, prognostiziert Große Entrup. Die Menge der in Deutschland produzierten Chemikalien werde wohl bestenfalls gleich und der Branchenumsatz mit 196 Milliarden Euro unverändert bleiben, während die Chemieproduktion um 1,5 Prozent schrumpfen werde. Dabei wirkt sich vor allem die Absatzkrise der Automobilbranche und die sinkende Nachfrage eines der wichtigsten Käufer von Kunststoffen und anderen Chemikalien negativ auf die Nachfrage aus.

„Wir müssen uns mit der Realität abfinden, dass wir weiter darauf achten müssen, die Infektionsraten unter Kontrolle zu halten und neue Infektionsherde schnell zu identifizieren und zu kapseln“, stellt Werner Baumann, Vorstandschef der Bayer AG, fest. „Darauf müssen alle Maßnahmen ausgerichtet sein, wenn es jetzt darum geht, schrittweise wieder soziales und öffentliches Leben in Gang zu bekommen.“ Bei erfolgreicher Erprobung und Zulassung von neuen Impfstoffen wollen die Leverkusener Produktionskapazitäten zur Verfügung stellen. „Wir produzieren heute keine Impfstoffe, werden das aber nach Bedarf innerhalb der nächsten zwölf Monate können“, verspricht Baumann.

Den Green Deal der EU-Kommission betrachtet der Verband der Chemischen Industrie (VCI) mit gemischten Gefühlen. Von 46 der 47 geplanten Maßnahmen aus dem Green Deal sei die Chemieindustrie direkt oder indirekt betroffen, rechnet der VCI aus, und von fast 80 Prozent der vorgestellten Initiativen sogar unmittelbar.

Die Wirtschaft habe allerdings keine Wahl, meint Klimaforscher Reinhard Hüttl vom Geoforschungszentrum in Potsdam. Die Coronakrise sei eine schlechte Ausrede, um bei der Klimafrage zu schludern. Das Problem der Klimaerwärmung sei nicht aus der Welt, nur weil es aus der Berichterstattung verschwunden sei.

Der Artikel erschien ursprünglich 2020 in der perspectives #7, Themen-Special: Schöne neue Welt

Bildquelle Stage: EDUARD MUZHEVSKYI/Science Photo Library/Getty Images

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