„Eine ausschließliche virtuelle Welt ist ein Schritt zur Entmenschlichung der Welt“

Führen mit Werten beginnt damit seine eigene Wahrheit zu akzeptieren. Genau hieran scheitert oftmals der gut gemeinte Versuch des menschlicheren Führens. Pater Anselm Grün ist Benediktinermönch, Managementtrainer und einer der bekanntesten Autoren spiritueller Bücher. Im Interview erklärt er, warum die Digitalisierung das Führen mit Werten erschwert

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22.05.2020, Interview mit Pater Anselm Grün, geführt von Christiane Zimmer

Pater Anselm, wie hat sich unser Wertesystem durch die Digitalisierung verändert? Im Internet erleben wir eine Verrohung des Umgangstons. Sind Werte im digitalen Zeitalter nicht wichtiger denn je?

Werte sind heute sehr wichtig. Sie schützen uns, damit wir uns nicht von der neuen Welt beherrschen zu lassen. Was nicht bedeutet, dass man sich der digitalen Welt verschließen soll. Ein wichtiger Wert ist die Verantwortung. In der virtuellen Welt sprechen die Menschen ohne Verantwortung für den anderen mit und übereinander. Wo Menschen ohne Verantwortung für ihr Tun handeln, ist der Weg frei für unkontrollierte Hassgefühle. Der Begriff Verantwortung impliziert es schon: Es geht um die freiwillige Verpflichtung, für die Folgen des eigenen Handelns einzustehen. Dort, wo ich jemandem real gegenüberstehe und ihm von Angesicht zu Angesicht antworte, achte ich auf die Worte, die ich sage. Die Anonymität des Internets tut dem Menschen nicht gut! Denn hier vergisst er seine Verantwortung für seine Worte und das führt dazu, unkontrolliert Hassgefühle zu artikulieren.

Woher kommen diese Hassgefühle?

Die Menschen sind unzufrieden. Doch sie suchen die Schuld bei anderen. Sie schauen sich nicht selbst an. Wir erleben die Flucht vor der eigenen Wahrheit, die Flucht vor sich selbst.

„In der virtuellen Welt sprechen die Menschen ohne Verantwortung für den anderen mit und übereinander. Wo Menschen ohne Verantwortung für ihr Tun handeln, ist der Weg frei für unkontrollierte Hassgefühle.“

Was meinen Sie mit der Flucht vor der eigenen Wahrheit?

Der Name der griechischen Göttin der Wahrheit lautet Aletheia und bedeutet Unverborgenheit. Dahinter steht nichts anderes als die Erkenntnis, dass ich mich selbst anständig anschauen muss, um Wahrheit zu erleben. Wenn jemand einen anderen ständig beschimpft, schimpft er eigentlich mit sich selbst; mit seinen verdrängten – also verborgenen Schwächen, die Teil der eigenen Wahrheit sind. Auch wer seine eigenen Wünsche verdrängt, beschimpf sich selbst.

Sie sind im Alter von 19 Jahren in die Benediktinerabtei Münsterschwarzach bei Würzburg eingetreten, wo Sie in der Kunst der Menschenführung aus der Regel Benedikts von Nursia geschult wurden. Was können wir von Benedikt lernen?

Benedikt geht es rein um den Menschen. In der Unternehmenswelt ordnen wir immer noch den Menschen den Zahlen unter. Der Begriff „human capital“ ist dafür bezeichnend. Der Mensch ist aber kein Kapital. Benedikt wollte in den Menschen Leben zu wecken. In seinen Regeln geht es um die Würde des Menschen. Wer nach den Regeln Benedikts führt, glaubt an das Gute im Menschen und hat zum Ziel dies hervorzulocken und Leben zu wecken. Eine Führung, die kontrolliert, prägt Ängste, eine Führung, die vertraut, glaubt an das Gute und weckt das Gute.

Das klingt einleuchtend. Scheint aber nicht so leicht umzusetzen. Schließlich sind Ihre Managementseminare hoch frequentiert. Mit welcher Erkenntnis gehen die Führungskräfte wieder zurück in ihre Organisationen?

Ich habe nicht den Ehrgeiz, die Teilnehmer meiner Seminare zu verändern. Ich will sie mit ihrer Seele in Berührung bringen. Ich lehre sie aus ihrer eigenen inneren Quelle zu schöpfen und keine abstrakten Ideale erfüllen zu wollen. Was kann mir helfen, dass ich mich vom Druck des Alltags nicht entmutigen lasse? Wie kann ich mit dem alltäglichen Druck besser umgehen? Für mich ist klar: Wer andere gut führen will, muss sich selbst kennen. Wenn ich mit meinen Emotionen gut umgehe, dann kann ich sie in Energie umwandeln.

Mein Ziel ist es, dass die Teilnehmer aufrechter nach Hause gehen. Ich bediene mich gern des Bildes von der Heilung der gekrümmten Frau aus dem Evangelium. Gehen Sie einmal ein paar Minuten gekrümmt, dann wissen Sie um die Wirkung des aufrechten Gehens.

„In der Unternehmenswelt ordnen wir immer noch den Menschen den Zahlen unter. Der Begriff „human capital“ ist dafür bezeichnend. Der Mensch ist aber kein Kapital.“

Sie sagen, dass man keine abstrakten Ideale erfüllen soll. Was meinen Sie damit?

Viele Menschen setzen sich keine Grenzen. Sie leben mit einer ständigen Selbstoptimierung. In der Spitze ist alles absolut. Sie trauen nicht den eigenen Gefühlen, sondern wollen nur die Erwartungen erfüllen, die an sie und ihre Rolle geknüpft sind. Dadurch werden sie bedürftig nach Anerkennung. Das setzt sie selbst unter Druck und dieser Druck wird nicht mehr sportlich gesehen, sondern wird zur Überforderung.

Stichwort Innovation und Künstliche Intelligenz. Auf der einen Seite nimmt der Wunsch nach Individualität und Selbstbestimmtheit zu. Auf der anderen Seite erleben wir die Ablösung menschlicher Tätigkeiten durch Roboter. Wie passt dies zusammen – auch mit Blick auf den christlichen Schöpfungsauftrag?

Ein Roboter kann einfache Tätigkeiten erledigen, aber er kann sich nicht in den Menschen einreihen und der Mensch ist kein Roboter, den man in ein System einreihen kann. Die Künstliche Intelligenz sammelt Daten aus der Vergangenheit. Der Mensch ist in der Lage durch seinen kreativen Geist Neues für die Zukunft zu schaffen. Innovationen brauchen Geist und den hat nur der Mensch. Ein reproduzierter Geist ist niemals ein kreativer Geist.

Ich sehe auch die Autonomisierung von Prozessen kritisch. Autonomes Fahren kann schwerlich funktionieren, wenn man dadurch die Verantwortung an eine künstliche Intelligenz abschiebt. Die Digitalisierung hat viele positive Entwicklungen gebracht. Aber die Gefahr liegt darin, dass der Mensch sich abhängig von ihr macht und dadurch seine Freiheit verliert. Die freie Entscheidung ist wie die Kreativität wesentlich für das Menschsein. Wenn man dies den Maschinen überlässt, geben wir etwas Wesentliches von der menschlichen Würde ab.

„Innovationen brauchen Geist und den hat nur der Mensch. Ein reproduzierter Geist ist niemals ein kreativer Geist.“

Albus Huxley hat in den 1930er Jahren mit seinem Roman „Schöne Neue Welt“ für ein breites Aufschreien gesorgt. Er handelt von der Entmenschlichung der Welt. Huxley interpretiert seinen Roman derart, dass der Mensch sich der Versuchung aussetze, sich selbst zu optimieren und dadurch sich selbst verliert. Ist an dieser „Bedrohung“ etwas Wahres dran?

Ja, ich denke schon. Die Bedrohung wird heute durch die Schnelllebigkeit und den Druck immer besser zu werden, noch stärker. Die ständige Selbstoptimierung führt zu einer Erschöpfung von sich selbst. Der Mensch ist keine Maschine. Ihn treiben Emotionen an und die entstehen nicht in der virtuellen Welt. Dennoch bin ich nicht grundsätzlich gegen Künstliche Intelligenz und digitalen Fortschritt. Das Wesen des Menschseins darf nur nicht zu kurz kommen.

Der Artikel erschien ursprünglich 2020 in der perspectives #7, Themen-Special: Schöne neue Welt

Bildquelle Stage: xiaoke ma / GettyImages

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