Von der Wachstums- zur Postwachstumsgesellschaft

Der Wunsch nach einem Job mit Sinn, Work-Life-Blending als neues Lebensmotto, Resilienz statt Effizienz – das Verständnis von Arbeit wandelt sich derzeit massiv. Ein Auszug aus dem Dossier „Megatrend New Work“ des Zukunftsinstituts zeigt, was für Arbeitnehmende und Unternehmen künftig zählt.

Von Harry Gatterer

Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs: Die kapitalistisch geprägten Vorstellungen von Karriere und Erfolg treten sukzessive in den Hintergrund. An ihrer Stelle nehmen Werte Platz, die nicht mehr unbedingt an harte Faktoren wie Einkommenshöhe und Status gekoppelt sind, sondern die mit weichen Faktoren wie Sinnhaftigkeit, Gestaltungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben verbunden sind. Diese Verschiebung der Prioritäten verdeutlichen immer mehr Studien: So ist es 96 Prozent der Berufstätigen wichtig, sich mit den Werten der Arbeitgeber identifizieren zu können, und fast ebenso viele wünschen sich eine Arbeit, die sinnstiftend ist (vgl. Bitkom Research 2019 ).

Um die Veränderungskraft des Megatrends New Work zu veranschaulichen, lohnt ein Blick zurück: In westlichen Agrargesellschaften war die Arbeit von Männern und Frauen gleichwertig. Beide Geschlechter trugen zum Überleben der gesamten Hofgemeinschaft bei. Erst mit der Industrialisierung entstanden Arbeitsplätze, die außerhalb des Hauses lagen. An die Stelle der Hofgemeinschaft trat die Kleinfamilie, und Männer wie Frauen begannen, einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die Hausarbeit fiel jedoch in dieser Zeit vermehrt in die Hände der Frauen – als zusätzliche Belastung neben der Erwerbsarbeit. Die Arbeit für die Familie passierte „aus Liebe“ und zählte dadurch nicht mehr als „richtige“ Arbeit (vgl. Bock et al. 1977).

Fortan konzentrierten sich politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen nur noch auf die Arbeit, die mit einem Einkommen verbunden war. Dieses Verständnis von Arbeit ist also noch recht jung – und wandelt sich derzeit wieder massiv. Das Leben wird heute nicht mehr so stark in Arbeit und Freizeit unterteilt, sondern im Ganzen als die Summe aller Tätigkeiten betrachtet – ganz gleich, ob diese bezahlt sind oder ehrenamtlich geschehen, ob sie aus Interesse, Pflicht oder Freude verrichtet werden. Das hängt auch mit einem neuen Blick auf den Stellenwert und Zweck des Wirtschaftens zusammen:

Insbesondere den jungen Generationen, der Generation Y und Generation Z, ist bewusst, dass das bislang Lebenssinn gebende Versprechen vom ewigen Wirtschaftswachstum nicht erfüllt werden kann, wenn dabei die Lebensgrundlage aller – der Planet Erde und dessen Ressourcen – zugrunde gewirtschaftet wird.

Diskussionen zum Grundeinkommen und zur Neubewertung von Care-Arbeit unabhängig von Geschlechterrollen sind erste zarte Knospen einer gesellschaftlichen Entwicklung, die den Begriff Arbeit von Erwerb entkoppelt.

Work-Life-Blending statt -Balance

Arbeitnehmende sehnen sich heutzutage nach Modellen, die Beruf und Freizeit harmonisch ineinandergreifen lassen. Eine gute Work-Life-Balance war laut einer im Jahr 2019 in der Schweiz durchgeführten Umfrage 78 Prozent der befragten Frauen und 75 Prozent der befragten Männer wichtiger als eine hohe berufliche Stellung oder Karriere. Wer heute Talente anziehen und halten möchte, der bietet als Arbeitgeber familienfreundliche Arbeitszeitmodelle an, ermöglicht Homeoffice, Jobsharing und eine betriebseigene Kinderbetreuung – oder Zuschüsse zur Kinderbetreuung (vgl. BMFSFJ 2018). Auch in Deutschland haben immer mehr Unternehmen verstanden, wie sie das Stresslevel von Eltern reduzieren: So hat sich die Zahl der Betriebskindergärten seit 2008 in Deutschland fast verdoppelt.

Statt einer perfekten Aufteilung der Zeit zwischen Job und Freizeit heißt das neue Lebensmotto Work-Life-Blending: Ein fließender Übergang zwischen Arbeits- und Privatleben ermöglicht den Arbeitnehmenden, flexibel auf private Umstände zu reagieren, selbstbestimmt zu arbeiten und damit produktiver zu sein.

Harry Gatterer, Trend- und Zukunftsforscher sowie Geschäftsführer des Zukunftsinstituts

Vorreiter im erfolgreichen Work-Life-Blending ist Dänemark: Während dort knapp 30 Prozent der Eltern in Doppelvollzeit beschäftigt sind, sind es in Deutschland nur knapp 1,2 Prozent (vgl. Eube 2019). Das liegt nicht nur daran, dass die Betreuungssituation von Kindern bis ins Schulalter in Dänemark besser ist, sondern auch an der hochflexiblen Gestaltung der Arbeitszeiten, die dänische Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gewähren. Ob jemand einmal nur 20 Stunden in der Woche arbeitet und dann wieder 40 Stunden, spielt im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum kaum eine Rolle. Vertrauen und eigenverantwortliche Projektorganisation stehen in Dänemark vor Anwesenheitspflicht und Stundenzettel. Nicht die Woche wird als Einheit betrachtet, sondern die Gesamtarbeitszeit im Jahr.

Zukunftsfähigkeit durch Resilienz statt Effizienz

Erst wenn die permanente Rationalisierung und Optimierung aller Prozesse nicht mehr Priorität hat, entsteht Raum für Weiterentwicklung – für Spielräume, die Unternehmen agiler und resilienter machen.

Denn Situationen, die nicht mit Ursache-Wirkungs-Prinzipien erklärt werden können, bringen auch in den bestgeführten Unternehmen die Chefetage ins Wanken. Auf der Suche nach Klarheit werden ausgefeilte Planungs-, Budgetierungs- und Produktionsmodelle ins Leben gerufen und Heerscharen von Mitarbeitenden dafür abgestellt. Prozessbeauftragte, Business-Operations-Planner, ISO-9000-Champions, Six-Sigma-Blackbelts – die Namen sind klingend, der Auftrag ist stets gleich: durch Perfektionierung des bisherigen Vorgehens die Zukunftsfähigkeit abzusichern.

Die Corona-Krise führte jedoch eindrucksvoll vor: Je zielstrebiger man diese Herangehensweise betreibt, desto härter ist der Aufprall in der Realität. Letztlich gelangt die Organisation an einen Punkt, an dem die Komplexität der Welt nicht mehr beherrschbar scheint. Dann braucht es nicht noch mehr Daten, noch ausgefeiltere Reportingstrukturen oder ein noch übersichtlicheres Managementcockpit, sondern: eine zuversichtliche Denk- und Handlungsweise im Umgang mit Unsicherheit und Risiko. Dabei sind Business-Ecosystems, bei denen sich Unternehmen gegenseitig unterstützen und einander in Coopetitions zu Innovation befeuern, eine gute Basis, um auf die kommenden „schwarzen Schwäne“ reagieren zu können. Welche dies sind, weiß man nicht – aber dass sie kommen werden, ist sicher.

Resilienz lässt sich nicht durch ständige Leistungssteigerung erreichen. Zukunftssicherheit hängt auch von scheinbar unnötigem Überfluss ab, von Zwischenlagern, Umwegen, Leerlauf, Redundanzen. Von Vielfalt statt Verschlankung.

Über den Autor

Harry Gatterer ist Trend- und Zukunftsforscher sowie Geschäftsführer des Zukunftsinstituts. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Verknüpfung von gesellschaftlichen Trends mit unternehmerischen Entscheidungen.

Konkrete Handlungsanweisungen zum Thema New Work veröffentlicht das Zukunftsinstitut im Workbook „Next Level Work“, das im Oktober 2021 erschienen ist.

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