"Innovation bedeutet Widerstand – und bringt uns gleichzeitig voran"

Geschäftsmodelle von Grund auf neu zu denken, ist das tägliche Geschäft von Philipp Seubert. Als Leiter des Innovation Labs der Infraserv GmbH & Co. Höchst KG unterstützt er interne wie externe Kunden beim Aufbau relevanter Prozesse und Produkte für die Industrie der Zukunft. Ein Interview über Transformation, Agilität – und das richtige Mindset.

Interview mit Philipp Seubert, Leiter des Innovation Labs der Infraserv Höchst, geführt von Christina Lynn Dier

Philipp Seubert unterstützt mit dem Innovation Lab der Infraserv Höchst Gruppe in Frankfurt am Main Mitarbeitende und Geschäftsbereiche, Unternehmen am Standort Industriepark Höchst und angrenzende Branchen beim Aufbau relevanter Geschäftsmodelle und Produkte für den Industriepark der Zukunft.

Herr Seubert, können Sie in drei Stichpunkten erläutern, was für Sie Innovation ausmacht?

Innovation ist neu, Innovation bricht mit bestehenden Regeln und stellt ganz klar den Nutzer in den Fokus. Und noch ein Zusatz: Eine Idee allein reicht nicht aus, es kommt auf die Umsetzung an. Denn sonst ist es „nur“ eine tolle Idee, aber keine Innovation.

Unternehmen müssen sich derzeit vielfältigen Herausforderungen und sich ständig ändernden Marktbedingungen stellen – wie bleibt in solchen Zeiten dennoch „Raum“ für Innovation?

Ich möchte an dieser Stelle anstatt von Innovation lieber von Transformation sprechen. Denn das ist genau das, was jeder von uns im Kleinen ständig tut. Wir versuchen, für neue Marktbedingungen Lösungen zu finden. Das bedeutet, mit vorhandenen Prozessen auch mal zu brechen. Dafür ist es hilfreich, sich als Team regelmäßig zusammenzusetzen und drei fast schon triviale Fragen in den Mittelpunkt zu stellen: Was lief gut, was lief schlecht und was können wir verbessern? Letztendlich sind es genau diese kleinen Routinen und Rituale, die einen Transformationsprozess im Unternehmen vorantreiben. Dabei spielt das Mindset eine entscheidende Rolle: Es geht nicht darum, sofort die perfekte Lösung zu finden, sondern darum, anzufangen und potenzielle Fehler zuzulassen – um dann daraus zu lernen und Schritt für Schritt den Weg zur großen Vision weiterzugehen.

Dieses Vorgehen erfordert eine neue Art des flexiblen Denkens. Häufig fällt in diesem Zusammenhang auch das Stichwort „agiles Arbeiten“. Wie definieren Sie diesen Begriff?

Agiles Arbeiten zielt darauf ab, Flexibilität, Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit zu verbessern. Im Kern geht es darum, Teams zu befähigen, schnell und effektiv auf Änderungen und Herausforderungen zu reagieren. Das geschieht durch regelmäßige und enge Kommunikation, durch kleine Experimente, um Hypothesen zu validieren, und durch die Überprüfung der Fortschritte in kurzen Iterationen. Dabei sind agile Arbeitsmethoden keineswegs nur auf die Softwareentwicklung beschränkt, sondern können auf alle Projekte und Aufgaben angewendet werden.

Wie wichtig ist eine agile Kultur für erfolgreiche Transformationsprozesse in Unternehmen?

Sehr wichtig! Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen in der Lage sein, schnell zu reagieren. Eine agile Kultur fördert genau das und schafft ein Umfeld, das Veränderungen, Experimente und Fehler zulässt und Innovationen fördert. Dafür sind unter anderem folgende Merkmale entscheidend: offene Kommunikation, kollaborative Zusammenarbeit, Vertrauen, Autonomie und kontinuierliche Verbesserung.

Die neuen Spielräume, die sich durch eine agile Arbeitsweise ergeben, setzen auch mehr Eigenverantwortung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraus. Wie kann das gelingen?

Dafür braucht es im Grunde nur vier Maßnahmen:

  1. klare Erwartungen und Ziele definieren, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, was von ihnen erwartet wird, und ihre Arbeit besser planen können.
  2. eine Vertrauenskultur schaffen, in der sich die Beschäftigten sicher fühlen, um Ideen zu äußern und eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen.
  3. regelmäßige Feedback-Gespräche durchführen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei der Umsetzung ihrer Ziele aktiv zur Seite stehen.
  4. Trainings- und Entwicklungsprogramme anbieten, um Beschäftigte bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen zu unterstützen.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Es braucht eine Kultur der Eigenverantwortung, die auf Vertrauen, Offenheit und Zusammenarbeit basiert. Unternehmen müssen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Raum geben, um ihre Arbeit eigenständig zu organisieren – und ihnen gleichzeitig aber auch Feedback und Unterstützung bieten, um erfolgreich zu sein.

Immer mehr Unternehmen gründen Innovation Labs, um die eigene Agilität zu stärken und innovative, wettbewerbsfähige Konzepte für die Zukunft zu entwickeln – so auch Infraserv Höchst. Welches Ziel verfolgen Sie?

Die chemische Industrie ist hochreguliert und bringt daher ein anderes Umfeld mit sich, als das in anderen Branchen der Fall ist. Unser 2018 gegründetes Innovation Lab ist deshalb bewusst etwas außerhalb des Industrieparks angesiedelt – durch die räumliche Entfernung soll es für interne Teams von Infraserv Höchst wie auch für externe Kunden einfacher sein, Gedankengänge und Ideen einfach mal fließen zu lassen. Bei der Entwicklung und Skalierung neuer Produkte, Dienstleistungen und Kundenerfahrungen spielen digitale Geschäftsmodelle eine entscheidende Rolle. Wir setzen im Innovation Lab dabei auf Methoden wie Design Thinking, Rapid Prototyping und Ecosystem Design. Unser Ziel ist es, direkt Kunden in den Entwicklungsprozess zu integrieren und so gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden aus Ideen schnell Prototypen zu entwickeln und zu testen. Gleichzeitig sind wir uns auch der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Umwelt sehr bewusst. Deshalb tragen wir auch Nachhaltigkeitsaspekten in unserem Innovationsprozess Rechnung, um ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) zu berücksichtigen und so nachhaltige Werte für alle Stakeholder zu schaffen.

Wie muss ein Innovation Lab gestaltet sein, damit Ideen wie die eben beschriebene zustande kommen können?

Unser Lab sieht jeden Tag anders aus, denn wir passen das jeweilige Setting immer individuell an die Teams und Themen an. Da Büroangestellte es gewohnt sind, häufig zu sitzen, arbeite ich in Workshops mit dieser Gruppe gern ausschließlich im Stehen und räume Möbel bewusst weg. Zudem ist es erwiesen, dass Bewegung dabei hilft, flexibler zu denken. Gerade wenn unterschiedlich arbeitende Gruppen in einem Workshop zusammentreffen, muss ein für alle Beteiligten passendes Format gefunden werden. Ein Workshop, an den ich direkt denken muss, setzte sich zusammen aus Gabelstapler-Fahrern, Lkw-Fahrern, Disponenten und deren Vorgesetzten sowie dem Abteilungsleiter selbst. Das Ergebnis war ein erstaunlich offener Austausch, der Informationen zutage förderte, die es ohne den Rahmen des Labs so wohl nicht gegeben hätte.

Sie unterstützen nicht nur Geschäftsbereiche der Infraserv Höchst-Gruppe, sondern auch andere Unternehmen im Industriepark Höchst sowie angrenzenden Branchen. Wie kann ich mir die Zusammenarbeit mit externen Kunden vorstellen?

Die Zusammenarbeit zwischen internen und externen Kunden unterscheidet sich kaum. Jeder, der zu uns ins Innovation Lab kommt oder einen virtuellen Workshop bucht, erhält das komplette Paket. Aber wir passen natürlich trotzdem viele Dinge individuell an: die räumlichen Gegebenheiten, den Aufbau des Workshops, die Zusammenstellung der Methoden. Hier fragen wir uns im Vorfeld zum Beispiel, wie sich der Teilnehmerkreis zusammensetzt, aus welcher Unternehmenskultur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen und welche Vorerfahrungen sie mit Workshopsituationen mitbringen.

Welche Methoden kommen dabei zum Einsatz?

Man muss grundsätzlich zwischen Methoden und Workshops unterscheiden. Zu vergleichen ist das mit dem Lego-Prinzip: Methoden sind einzelne kleine Bausteine, die zu einem Gesamtkonstrukt, also dem Workshop, zusammengebaut werden. Insgesamt haben wir in unserem Baukasten rund 500 Methoden, 30 davon verwende ich besonders häufig. Dazu gehören zum Beispiel Methoden wie Brainstorming, Brainwriting oder Clustering. Diese Methoden aneinandergereiht bilden die größeren Bausteine, aus denen sich ein Workshop zusammensetzt. Nimmt man dann noch den „Design Sprint“ dazu, dann setzt sich dieser wiederum aus vielen Workshops zusammen. Beim „Design Sprint“ handelt es sich um ein hochstrukturiertes Format, bei dem immer die gleichen Methoden zum Einsatz kommen. Damit garantieren wir auch eine gleichbleibende Qualität.
Beim Aufbau eines Workshops versuchen wir immer, zwei Bereiche zu berücksichtigen: Der erste Bereich betrifft den Problemraum. Hierbei geht es darum, das Problem zu schärfen und an den Kern zu kommen. Wir stellen uns unter anderem folgende Fragen: Was ist das Problem? Wer hat das Problem? Reden wir überhaupt alle vom gleichen Problem? Der zweite Bereich ist der Lösungsraum: Hier geht es um das Erarbeiten von Lösungen. Diese Leitplanken-Technik zieht sich wie ein roter Faden durch alle Workshops.

Während der Corona-Pandemie mussten Sie Ihre Workshops über Monate hinweg in den virtuellen Raum verlagern. Wie hat sich die Arbeit des Innovation Labs dadurch verändert und wie gehen Sie mit diesen Herausforderungen um?

Für mich ist erstmal eine Welt zusammengebrochen, denn die Interaktion mit den Menschen ist der Kern unserer Arbeit. Und das war plötzlich weg. Zum Glück hatten wir bereits vor der Corona-Pandemie mit verschiedenen Whiteboard-Tools experimentiert, um schriftlich festgehaltene Post-its ins Digitale zu überführen. Außerdem hatten wir mit Microsoft Teams und Zoom erste Erfahrungen gesammelt. Ausgestattet mit diesen Tools, mussten wir also versuchen, unsere Arbeit von einem Tag auf den anderen in den virtuellen Raum zu verlagern – und erzielten nicht die gewünschten Resultate. Ich musste feststellen, dass die Workshops, die ich bis dato physisch begleitet hatte, sich nicht eins zu eins ins Digitale übertragen lassen. Aber wir gaben nicht auf und nach circa einem halben Jahr hatten wir genügend Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, wie wir Workshops im digitalen Raum am besten gestalten. Das Feedback der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war dabei besonders wertvoll – ich habe in dieser Zeit also selbst einen iterativen Lernprozess durchlaufen. Zusammenfassend kann ich sagen: Virtuelle Workshops sind nicht besser, sie sind anders. Die Vorbereitungen kosten mehr Energie, dafür entfallen zum Beispiel die Reisezeiten. Da sie für einen bestimmten Teilnehmerkreis durchaus Vorteile bieten, werden wir virtuelle Workshops auch weiterhin im Portfolio haben.

Was sind weitere wichtige Learnings aus Ihrer Arbeit an den unterschiedlichen Projekten der vergangenen Monate und Jahre?

Ein zentrales Learning bezieht sich auf das Silo-Denken, das in vielen Unternehmen noch immer vorherrscht. Hier zeigt unsere Erfahrung, wie wichtig es ist, mit einigen wenigen Mitarbeitenden klein anzufangen und möglichst schnell erste Ergebnisse zu präsentieren. Nach dem Motto: Schaut mal, das haben wir schon mal vorbereitet. Dieses Bottom-up-Vorgehen kann durchaus erfolgreich sein – wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese Ergebnisse in die einzelnen Abteilungen weitertragen, den nötigen Rückhalt erfahren. Hier sind insbesondere die Führungskräfte gefragt: Es ist ihre Aufgabe, neue Impulse anzunehmen und sie zu fördern. Das ist für viele Führungskräfte aber schwierig, denn sie haben es nie gelernt. Und woher soll man etwas kennen, wenn man es nie gelernt hat?

Hier zeigt sich einmal mehr: Innovation bedeutet Widerstand, da es immer darum geht, liebgewonnene Prozesse loszulassen. Aber es ist gleichzeitig auch ein unheimlich gutes Gefühl, denn ich weiß: Ich wachse daran und es bringt uns als Gesamtunternehmen voran.

Philipp Seubert, Leiter des Innovation Labs der Infraserv GmbH & Co. Höchst KG

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wo soll die Reise für das Innovation Lab hingehen?

Es gibt zwei Visionen: Bei der Unternehmensvision, die sich auf die Infraserv Höchst-Gruppe als Ganzes bezieht, wird es künftig weiter darum gehen, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und neue Produkte hervorzubringen. Meine persönliche Vision mag sich erstmal seltsam anhören, aber sie lautet: Im besten Fall braucht es mich in zehn Jahren nicht mehr. Warum? Weil wir bis dahin ein Mindset, eine Kultur geschaffen haben, die gewissen Prinzipien folgt. Nämlich: Der Kunde steht im Mittelpunkt, Lösungen werden klein und iterativ erarbeitet, es gibt Teams, die das Ganze schnell umsetzen. Wenn das in der Mitarbeiter-DNA verankert ist und alle die Werkzeuge in der Hand haben, um diesen Weg selbstbestimmt zu gehen, dann ist meine Aufgabe erfüllt. Dann ist jeder Einzelne Teil des Ganzen – und das gesamte Unternehmen quasi das Lab.

Vielen Dank für das Interview!

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