Industriepark Höchst bei Nacht

Zeitenwende(n) und neue Multipolarität –
die Industrie in Deutschland an der Wegscheide ins Abseits?

Rede von Jürgen Vormann am Frankfurter Industrieabend

  • Rede gehalten am 13. Dezember 2022 am Frankfurter Industrieabend in der IHK Frankfurt am Main
  • Redner: Jürgen Vormann, Vorsitzender der Geschäftsführung Infraserv Verwaltungs GmbH und Infraserv GmbH & Co. Höchst KG, Vorsitzender des Industrieausschusses der IHK Frankfurt am Main
  • Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident – lieber Herr Caspar,
sehr geehrter Herr Stadtverordneter Paulsen,
sehr geehrte Gäste und Teilnehmer des Frankfurter Industrieabends,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Auch ich möchte Sie ganz herzlich zum diesjährigen Frankfurter Industrieabend der IHK Frankfurt am Main und der Stadt Frankfurt am Main begrüßen. Gleichzeitig möchte ich mich für die Einladung, die diesjährige Rede aus Anlass des Frankfurter Industrieabends halten zu dürfen, ganz herzlich bedanken. Dies ist eine große Ehre für mich.

Das als Frage formulierte Thema meiner heutigen Rede lautet: „Zeitenwende(n) und neue Multipolarität – die Industrie in Deutschland auf dem Weg ins Abseits?“.

Mit meinen heutigen Ausführungen zu diesem Thema kann und will ich nur einige meiner Gedanken zu dieser Frage teilen; ich möchte damit einige Denkanstösse und Impulse für eine öffentliche Diskussion geben, die überfällig ist und leider erst langsam an Fahrt aufnimmt. Eine umfassende Behandlung des Themas würde sicherlich den zeitlichen Rahmen des heutigen Abends sprengen.

Warum habe ich dieses Thema gewählt? Weil es aus meiner Sicht für Deutschland und insbesondere die Industrie hierzulande sehr relevant ist! Der argumentative Gesamtzusammenhang ist dabei vordergründig schnell erklärt: Auf europäischem Boden findet seit dem 24.Februar 2022 erstmals seit Ende des 2. Weltkrieges wieder eine kriegerische Auseinandersetzung statt. Und bereits im Vorfeld des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine haben die Energiemärkte im Herbst 2021 einen möglichen kriegerischen Verlauf des seit der Annexion der Halbinsel Krim und der Besetzung von Gebieten im Osten der Ukraine im Jahre 2014 schwelenden Konfliktes vorweggenommen. Aufgrund der großen Abhängigkeit Europas und insbesondere Deutschlands von Öl- und vor allem Gaslieferungen aus Russland, aufgrund niedriger Speicherstände der Gasspeicher im Frühjahr dieses Jahres und vor dem Hintergrund der Fahrlässigkeit einer politisch und behördlich schlecht geplanten und handwerklich bis dato noch schlechter umgesetzten Energiewende sowie notwendiger, jedoch hektischer und für alle Marktteilnehmer bestens kalkulierbarer und damit verhandlungstaktisch fragwürdig orchestrierter Ersatzbeschaffungsaktivitäten für wichtige Primärenergieträger seitens der Bundesregierung, sind die Preise insbesondere für den Primärenergieträger Erdgas als auch für Nutzenergie in Form von elektrischem Strom und Wärme zwischenzeitlich förmlich explodiert. Dies hat zu einer deutlichen Verschlechterung der Wettbewerbsposition - insbesondere energieintensiver - deutscher und europäischer Unternehmen geführt. Energieintensive Produktionsanlagen wurden temporär stillgelegt oder heruntergefahren, z.B. in einigen Bereichen der Metallerzeugung (Produktion im Oktober 2022: -14% ggb. 2015) und der Chemischen Industrie (Produktion im Oktober 2022: -22% ggb. 2015). Die kurzfristigen Folgen sind Abrisse in den hiesigen Wertschöpfungsketten, die zu Versorgungsengpässen - z.B. – und um nur einige Beispiele zu nennen - bei Flockungsmitteln für die Trinkwasserherstellung, Fällungsmitteln für die Abwasserbehandlung, Harnstoff für die Pharmasynthese und die Ad-Blue-Herstellung führen. Diese kurzfristigen Folgen sind schon schmerzhaft genug. Mittel- bis langfristig - und dies ist die für Deutschland und Europa potentiell weit gefährlichere Entwicklung - droht bei nachhaltig im weltweiten Wettbewerbsvergleich deutlich höheren Energiepreisen eine weitere – und dann verstärkte – Unter- oder Nichtauslastung hiesiger Produktionskapazitäten mit entsprechenden negativen Folgen für die Wirtschaftlichkeit der Produktionsanlagen und die Stabilität von Wertschöpfungsketten und die Sicherheit von Arbeitsplätzen. Gravierender noch: es droht eine Verlagerung künftiger Investitionen in andere Regionen der Welt. Die Fern- und Folgewirkungen einer solchen Entwicklung für die deutschen und europäischen Wirtschaftsstrukturen und die auf diesen Strukturen basierenden Sozialsysteme sind kaum zu überschätzen. Insbesondere die demographische Entwicklung der kommenden Jahre, ein lähmendes regulatorisches Geflecht und eine lahme Bürokratie in Deutschland und in Europa werden diese Entwicklung weiter beschleunigen!

So weit die holzschnittartig in den vergangenen Monaten und Wochen vorgetragene Argumentation aus einigen Teilbereichen der Industrie, vor allem aus der Chemischen Industrie. Ich persönlich teile diese pessimistische Einschätzung aus aktueller Perspektive ganz ausdrücklich und sehe daher tatsächlich die große Gefahr, dass sich ein nennenswerter Teil der Industrie in Deutschland an der Wegscheide ins Abseits befindet. Wohlgemerkt: Ich nutze hier ganz bewusst den Begriff der „Industrie in Deutschland“; ich rede nicht notwendigerweise von der „deutschen Industrie“, die – soweit und solange sie international aufgestellt ist - unternehmerische Entwicklungsmöglichkeiten auch in anderen Teilen der Welt, außerhalb Deutschlands und ggf. auch außerhalb Europas, wahrnehmen kann und auch heute schon wahrnimmt. Eine deutsche Industrie jedoch, die ihre Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland verliert und damit ihre Heimatbasis schwächt, wird auf lange Sicht nach meiner festen Überzeugung auch im globalen Kontext ihre wirtschaftliche Stärke oder ihre selbständige unternehmerische Identität einbüßen.

Was ist Zielsetzung meiner heutigen Ausführungen?

Ich möchte heute einen Schritt zurücktreten, die mediale Kakophonie des auslaufenden Jahres ausblenden, die Diskussionen über „Wumms“ und „Doppel-Wumms“ hintanstellen und aus etwas größerer Distanz und mit deutlich längerem Betrachtungshorizont aus der Perspektive der Industrie

  • zum Einen einige der aus meiner Sicht wesentlichen strukturellen Herausforderungen beschreiben, vor denen unser Land im Allgemeinen und der Sektor des Verarbeitenden Gewerbes im Besonderen stehen;
  • ich will gleichzeitig den Versuch unternehmen, die Ursachen hierfür zu identifizieren - und – wichtiger noch:
  • ich will Ansatzpunkte und allgemein anwendbare Regeln für Veränderungsprozesse skizzieren, die aus meiner Sicht dazu beitragen können, bisherige Fehlentwicklungen zu korrigieren und künftige Fehlentwicklungen zu vermeiden.

Vor welchen Herausforderungen also stehen wir heute – und warum stehen wir hier?

Das am vergangenen Freitag zum Wort des Jahres 2022 gekürte Wort lautet „Zeitenwende“. Ich kann Ihnen versichern, dass ich vor einigen Wochen, bei der Formulierung des Themas für meine heutige Rede, keine Insider-Informationen aus der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache hatte. Ich habe dieses Wort für das Titelthema allerdings ganz bewusst verwendet, und ich nutze es darüber hinaus im Plural, weil ich davon überzeugt bin, dass wir, wenn wir über – Zitat - „längere Abschnitte der Geschichte, die sich durch verbindende Merkmale auszeichnen“ – Zitatende - reden (so zumindest die Definition des Begriffs „Zeitalter“ in Wikipedia), wir nicht nur „das eine“ bzw. „das dominierende“ verbindende Merkmal finden werden, welches ein Zeitalter definiert, sondern dass wir in den vergangenen fast 8 zurückliegenden Dekaden seit Ende des 2. Weltkrieges eine ganze Reihe wichtiger Entwicklungen betrachten müssen, die immer wieder zu tiefgreifenden Paradigmenwechseln geführt haben bzw. noch führen werden.

Lassen Sie mich heute drei dieser Entwicklungen herausgreifen, die aus meiner Sicht von besonderer Bedeutung sind:

1. Der erneute Zerfall der Welt in mehrere Machtblöcke

Mit dem Ende des 2. Weltkrieges war die Welt überschaubar in zwei große Lager getrennt. Der „Westen“ unter der Führung der Vereinigten Staaten und der „Osten“ unter der Führung der Sowjetunion waren als politisch, wirtschaftlich und vor allem militärisch geordnete Machtblöcke klar definiert; China und die übrigen Staaten der Welt spielten dagegen eine zunächst untergeordnete Rolle. Aber schon in dieser Phase der Geschichte, die vordergründig bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 währte, bildeten sich neue Machtzentren heraus, die seit geraumer Zeit auch deutlich sichtbar in Erscheinung treten: China hat als bald größte Volkswirtschaft der Welt neben den Vereinigten Staaten klar seinen Weltmachtanspruch formuliert – sowohl wirtschaftlich als auch militärisch; Indien lässt als das zweit-bevölkerungsreichste Land der Erde ebenfalls entsprechende Ambitionen deutlich erkennen, und die Länder der Europäischen Union haben mit der Gründung und Ausdehnung der EU ein supranationales Gebilde zur Schaffung wirtschafts- und machtpolitischer Synergien aus der Taufe gehoben, um im globalen Kontext der Mächte ausreichend politisches und wirtschaftliches „Gewicht“ auf die Waagschale zu bringen. Die vom Bundeskanzler aufgrund des völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine ausgerufene „Zeitenwende“ ist hier meines Erachtens allenfalls als Unterfall dergestalt zu subsumieren, dass das von Francis Fukuyama nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgerufene „Ende der Geschichte“ vom russischen Präsidenten bereits ein weiteres Mal ad absurdum geführt wurde und offensichtlich nur deutsche und vereinzelte europäische Politiker hiervon wirklich überrascht sein konnten.

Machtfragen hatten in der Geschichte der Menschheit in der Regel immer auch eine wirtschaftliche Komponente und wirtschaftliche Fragen sind immer auch Machtfragen. Vor diesem Hintergrund wird nach meiner Einschätzung aus europäischer Sicht auch der Beantwortung der „Systemfrage“ eine entscheidende Bedeutung zukommen. Die Beantwortung dieser Frage wird nicht nur ganz massgeblich über Erfolg oder Misserfolg der angestrebten Transformation der deutschen und europäischen Wirtschaft entscheiden, sondern sie wird auch die Wettbewerbsfähigkeit Europas im globalen Wettbewerb der Machtblöcke beeinflussen und damit auch das Ausmaß unseres politischen und wirtschaftlichen Einflusses – von der schon heute sehr fragwürdigen und von den Vereinigten Staaten abhängigen militärischen Stärke ganz zu schweigen!

Die Systemfrage, die wir in diesem Zusammenhang stellen (und beantworten!) müssen lautet: Vertrauen wir der Kraft des Marktes, der Smith’schen „unsichtbaren Hand“ und der statistischen „Macht“ vieler Marktteilnehmer als der effektivsten und effizientesten Form eines Suchprozesses oder geben wir uns der Illusion hin, dass wenige „Besserwisser“ – sei es in Politik und/oder Wirtschaft – es besser wissen als die sich im Wettbewerb bewährenden „Vielen“? China baut – nicht zuletzt mit dem Verweis auf den Erfolg des rasanten wirtschaftlichen Aufholungsprozesses der vergangenen 5 Dekaden auf eine verstärkte zentrale Lenkung der Märkte. Die Vereinigten Staaten von Amerika vertrauen weiterhin marktwirtschaftlichen Prinzipien und stimulieren gleichzeitig im Rahmen der Transformation der Wirtschaft die erforderlichen Suchprozesse des Marktes pragmatisch, beherzt und vor allem mit protektionistischem Einschlag mit enormen staatlichen Subventionen im Rahmen des sogenannten „Inflation Reduction Act“.

Und wir deutschen Europäer? Die EU-Kommission produziert viele Hochglanzfolien, auf denen vom „European Green Deal“ die Rede ist und auf deren Papier visionäre Lösungen für die Konzepte und Massnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen bei Klimaschutz, Taxonomie, Energieversorgung, Industriepolitik, Verteilungsgerechtigkeit, Compliance und weitere „Sustainable Development Goals“ beschrieben sind. Zeitgleich mit dem Kampf um die Verfügbarmachung finanzieller Mittel werden aber schon detailliert ausformulierte Regelungsentwürfe für die Transformation der europäischen Wirtschaft erarbeitet, die im Hinblick auf die daraus resultierende Bürokratie schon jetzt Schlimmstes befürchten lassen. Mit einem Wort: der „Herrschaft des Rechts“ wird durch noch mehr und noch komplexere Regeln ein Bärendienst erwiesen. Wir werden uns künftig noch mehr der Dienste externer Dienstleister – vulgo: Berater oder Rechtsanwälte – bedienen müssen, um zu „unserem Recht“ zu kommen. Dies trägt zwar wenig zur Wertschöpfung im Sinne eines europäischen Außenbeitrags bei, sorgt aber wenigstens für eine verbesserte innereuropäische Dienstleistungs-Konjunktur.

2. Das Ende des grenzenlosen Wachstums

Die menschliche Erfahrung über die Knappheit von Ressourcen ist so alt wie die Erkenntnis über die grundsätzliche Unbegrenztheit menschlicher Bedürfnisse. Über Jahrtausende hinweg musste sich die menschliche Nachfrage an das natürliche Angebot anpassen, und sei es über Verteilungskämpfe, in denen menschliche Opfer zu beklagen waren. Es gibt nur wenige Gründe die nahelegen, dass sich angesichts einer nach wie vor stark wachsenden Weltbevölkerung an diesem fundamentalen Wirkungszusammenhang etwas geändert hätte. Spätestens mit dem Beginn der industriellen Revolution jedoch hat nicht nur die wissenschaftliche Diskussion über die Wirkungszusammenhänge von Angebot und Nachfrage und die Möglichkeiten und Grenzen der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse begonnen; bedingt durch Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik traten die schon in vorindustrieller Zeit formulierten Hinweise auf die Begrenztheit gewisser natürlicher Ressourcen zunächst in den Hintergrund. Die Folgen medizinischer und technischer Entwicklungen ermöglichten ein anhaltend starkes Bevölkerungswachstum, welches nach dem Ende des zweiten Weltkriegs nochmals an Fahrt aufnahm. Im Gefolge dieser Entwicklung rückten mit dem im Jahr 1972 publizierten Bericht des Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ erstmals wieder stärker in den Vordergrund. Dass diese – aus meiner Sicht notwendige – Diskussion insbesondere in den wirtschaftlich weit entwickelten, alternden und weitestgehend saturierten westlichen Gesellschaften auf starke Resonanz gestossen ist , sollte meines Erachtens auch einmal mit den wissenschaftlichen Werkzeugen der Psychologie untersucht werden. Einstweilen liegt hier jedoch die Vermutung nahe, dass dort, wo - bei oberflächlicher Betrachtung - gesamtgesellschaftlich kein existenzieller Mangel herrscht, weil das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung und auch Sicherheit als befriedigt angesehen werden kann, nach Abraham Maslow individuelle Bedürfnisse oder das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund rücken.

Interessanterweise wird die Diskussion um Nachhaltigkeit und Schonung knapper Ressourcen in der politischen und medialen Öffentlichkeit seit geraumer Zeit primär an der Frage des CO2-Ausstosses und dessen Folgen – Stichwort: global warming – diskutiert. Möglicherweise liegt dies daran, dass sich mit diesem Thema beim Publikum am ehesten eine „persönliche Betroffenheit“ verbunden mit einem „sense of urgency“, d.h. eine mehr oder weniger alarmistische mediale Grundstimmung erzeugen lässt, mittels derer Veränderungen auch gegen anfängliche Widerstände besser bewirkt werden können. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: auch ich betrachte den menschengemachten Klimawandel als großes und drängendes Problem; nach Lektüre aller IPCC-Reports zum Klimawandel der vergangenen Jahre bin ich allerdings auch davon überzeugt, dass die Welt aufgrund des Klimawandels nicht in den kommenden 20 bis 30 Jahren untergehen wird, obwohl wir nahezu sämtliche der politisch postulierten Klimaschutz-Ziele aller Voraussicht nach verfehlen werden. Auch mehrere Dekaden einer vor uns liegenden Transformation globaler Wirtschaftskreisläufe in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz erscheinen - angesichts der seit Menschengedenken herrschenden und bis dato ungelösten Probleme von Krieg und Hunger in der heutigen Welt – eher als ein äußerst ambitionierter Zeitraum für die Lösung einer solch’ monumentalen Aufgabe. Ich bin gleichzeitig der festen Überzeugung, dass wir mit dem aus meiner Sicht zwingenden und dringenden Ziel nachhaltigen Wirtschaftens auch mit Nachdruck das Problem der CO2-Emissionen adressieren müssen; allerdings sollten wir nicht aus Angst vor dem ökologischen Tod ökonomischen Selbstmord begehen.

In den noch aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens und ebenso in der durch eine stark schrumpfende Mittelschicht geprägten US-amerikanischen Volkswirtschaft, mit nach wie vor hohen Außenhandels-Defiziten, wird sich entscheiden, ob Nachhaltigkeit und Klimaschutz auch dort denselben Stellenwert haben, wie hierzulande. Deutschland und die EU sollten es nicht zuletzt auch von der Beantwortung dieser Frage abhängig machen, welchen zeitlichen Rahmen sie den europäischen Unternehmen für die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit setzt.

Stichwort: ökonomischer Selbstmord: bis dato unbeantwortet ist auch die Frage, welche Sprengkraft sich in einer saturierten, anspruchsorientierten, eher risikoaversen Gesellschaft entfalten kann, die zudem verlernt hat, um ihr täglich Brot kämpfen zu müssen. Wer die Möglichkeit hat, das Venezuela der 1970er Jahre – damals wie heute aufgrund des Ölreichtums eines der reichsten Länder der Welt - mit dem Venezuela von heute zu vergleichen, bekommt vielleicht ein erstes Gespür dafür, wie schnell eine ideologisch motivierte Politik in völliger Verkennung der Stärken und Schwächen des eigenen nationalen Geschäftsmodells ein Land an bzw. in den Abgrund führen kann.

3. Die Energieversorgung als Schlüsselfrage für Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit

Die ausreichende und verlässliche Versorgung mit Nutzenergie zu wettbewerbsfähigen Preisen war schon immer einer der Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche industrielle Entwicklung. Dabei stand die Frage der Verfügbarkeit von Primärenergieträgern zu Beginn der industriellen Entwicklung zunächst im Vordergrund der Betrachtung, was angesichts der im Vergleich zum Nutzen eher vernachlässigbaren Kosten der Gewinnung dieser Primärenergieträger auch nachvollziehbar war. Erst mit fortschreitender Industrialisierung und damit auch einhergehenden steigenden Energiekosten – sei es aufgrund anspruchsvollerer Kosten der Gewinnung von Primärenergieträgern, sei es aufgrund deren lokaler Knappheit, sei es aus Gründen oligopolistischer Machtausübung (Stichwort Ölkrise) oder sei es auch aus Gründen anspruchsvollerer technischer Verfahren zur Konversion von Primärenergie in Nutzenergie – ist die Frage wettbewerbsfähiger Nutzenergie-Kosten und -preise als differenzierender wirtschaftlicher Erfolgsfaktor zunehmend in den Vordergrund getreten. Die Erkenntnis, dass die Verbrennung fossiler Energieträger zum Zwecke der Nutzenergieerzeugung ganz massgeblich zum CO2-Eintrag in die Atmosphäre beiträgt, hat schließlich dazu geführt, den Verbrauch der Ressource „Klima“ durch die Einführung von Emissionszertifikaten mit einem positiven Preis und damit Kosten zu belegen. Dieses Konzept folgt einem marktwirtschaftlichen Ansatz und würde, so es denn globale Anwendung fände, nicht nur Verzerrungen des Wettbewerbs vermeiden sondern ganz im Smith’schen Sinne über die „unsichtbare Hand“ des Marktes effektive und effiziente Lenkungswirkungen zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen entfalten. Hierzulande sind wir – meines Erachtens aus primär dogmatischen Gründen - bereits den berühmten Schritt weiter und haben im Rahmen der beschlossenen deutschen und europäischen Klimaschutz-Ziele faktisch ein generelles Verbot der Verbrennung fossiler Energieträger verkündet und in Teilen – Stichwort Kohleausstieg - auch schon beschlossen. Es ist nicht auszuschliessen, dass dieser Schritt die Industrie in Deutschland bereits heute ins wirtschaftliche Abseits stellt; aus einer dauerhaften Abseitsstellung kann dann der wirtschaftliche Abstieg folgen, sofern es uns nicht gelingt, in naher Zukunft neue, nachhaltige, redundant verfügbare und gleichzeitig im internationalen Vergleich wettbewerbsfähige Nutzenergiequellen zu erschliessen und diese neuen Nutzenergiequellen auch gleichzeitig mit den Nutzenergie-Verbrauchern zu verbinden.

Hier sind allerdings noch hohe Hürden zu überwinden: angefangen bei der Frage, welche der bekannten bzw. grundsätzlich verfügbaren Technologien nicht nur technisch sondern auch zu kommerziell wettbewerbsfähigen Konditionen verfügbar gemacht werden können, über die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Technologien, bis hin zu Fragen sachgerechter und zügiger Genehmigungsverfahren, der zeitgerechten technischen Umsetzung und der Finanzierbarkeit: Angesichts der Vielzahl und Güte dieser Transformations-Herausforderungen müssten wir hierzulande angesichts der aktuellen Klimaschutzziele schon sehr viel weiter vorangeschritten sein bei der Umsetzung einzelner Transformations-Schritte. Statt nun endlich ins „Tun“ zu kommen, um die Herausforderungen anzupacken, und eine langfristig angelegte Transformationsstrategie mit Realitätssinn zu planen und deren Umsetzung beherzt ins Werk zu setzen, laufen wir in Deutschland lediglich der absehbaren Verfehlung unserer Klimaschutz-Ziele hinterher und die Politik versucht, dies durch eine permanente Verschärfung der Zielsetzungen zu kompensieren. Gute, verantwortlich handelnde Politik sieht anders aus. Und – siehe meine Ausführungen weiter oben – gute, verantwortlich handelnde Politik verliert auch ihre globalen Wettbewerber nicht aus dem Blick und passt die eigenen Transformationserwartungen inhaltlich und zeitlich entsprechend an.

Um die Dramatik der aktuellen Entwicklungen in der deutschen und europäischen Energiepolitik mit einem - zugegebenermassen polemisierenden aber aus meiner Sicht passenden - Bild zu versehen, stellen Sie sich bitte vor, Sie seien Fallschirmspringer, und beim Sprung aus dem Flugzeug müssen Sie aufgrund der mutmasslich fragwürdigen Umweltwirkungen auf das Tragen eines Fallschirms verzichten, in der Hoffnung, dass Ihnen bis zum Aufprall auf dem Boden noch rechtzeitig eine nachhaltigere, technisch funktionsfähige, bezahlbare und für die Betrachter am Boden akzeptable Fallschirm-Ersatztechnologie zur Verfügung gestellt werden wird. Ich halte mich für einen mutigen Menschen, der grundsätzlich voller Zuversicht in die Zukunft blickt – aber – und wohl wissend, in absehbarer Zeit selbst „springen“ zu müssen: ich würde den „Sprung“ unter diesen Rahmenbedingungen noch nicht wagen.

Was ist zu tun? Versuch einer Skizze für Ansatzpunkte und Regeln für eine erfolgreiche Transformation der Wirtschaft!

Ich möchte – basierend auf meinen bisherigen Ausführungen – zum Abschluss meines Impulsvortrags den Versuch machen, Ansatzpunkte und allgemein anwendbare Regeln zur erfolgreichen Gestaltung von Veränderungs- oder Transformationsprozessen zu skizzieren, die auch bei der Bewältigung der aktuell vor uns liegenden Herausforderungen einschlägig sein können. Ich werde die Liste dieser Ansatzpunkte kurz halten und freue mich im Übrigen auf die Diskussion mit Ihnen, um ggf. weitere Anregungen und Ergänzungen auf- und mitzunehmen.

1. Mut und Zuversicht als Grundhaltung! Eine optimistische, zuversichtliche Grundhaltung ist der beste Garant für die Entwicklung und die Prüfung von Zukunftskonzepten, die den Tag überdauern können und für die Menschen gemacht sind. Dazu gehört auch der Mut, für sich deutlich sichtbar und hörbar in die Diskussion zur Entwicklung dieser Zukunftskonzepte einzubringen und für die eigene Meinung im öffentlichen, ggf. streitigen, Diskurs einzustehen – eine Eigenschaft, die angesichts der heutigen Usancen im medialen Umfeld nicht immer verbreitet ist. Mut und Zuversicht sind übrigens auch zur Bewältigung von Welt-Untergangs-Szenarien hilfreich, getreu dem Luther’schen Motto: „Und wüßt ich, dass morgen die Welt untergeht, so würde ich doch heute noch ein Bäumchen pflanzen!“

2. Verstand statt Dogma: Wir sollten unseren Verstand nutzen, anstatt tradierten und ggf. dogmatischen Denkmustern zu folgen. Das setzt allerdings voraus, sich selbst kritisch hinterfragen und ggf. eigene Fehler oder Fehleinschätzungen eingestehen zu können. In Verbindung mit Regel Nr. 1 ist damit schon fast vollständig das Grundprinzip der Aufklärung beschrieben - nämlich der Ausgang des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit – Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen – und handele danach!

3. Realismus statt Naivität: Betrachten wir die Welt, wie sie ist – und nicht, wie sie sein sollte. Ein realistischer Blick sollte uns bei der Problemanalyse und bei der Ableitung von möglichen Lösungsansätzen ebenso leiten, wie bei der Beurteilung von Menschen, Verhandlungspartnern und auch Nationen und deren Interessen und Verhaltensmustern.

4. Zahlen, Daten Fakten statt Glaubenssätzen: Zahlen/Daten/Fakten sollten die Basis für jede Entscheidung sein. Glaubenssätze oder Behauptungen ohne Z/D/F-Basis sollten bei der Entscheidungsfindung keine Rolle spielen. Alarmismus ist in jeder Diskussion fehl am Platz.

5. Balance der Ziele statt „Scheuklappenblick“: Es gibt in aller Regel mehr als ein Ziel, welches es im Rahmen von Veränderungs- oder Transformationsprozessen zu verfolgen gilt. Wenn es um tiefgreifende Veränderungen geht, müssen berechtigte Ziele der verschiedenen Stakeholder aus Akzeptanzgründen in ein balanciertes Zielsystem gebracht werden. Vor diesem Hintergrund sollten wir die erstmalige Bildung einer Ampelkoalition auf Bundesebene auch als Chance begreifen, auch wenn nicht Jedem Alles gefällt.

6. Entwickle mehrere fehlertolerante Handlungsoptionen, setze nicht alles auf eine Karte, und denke auch das Undenkbare. Diese Regel erhält bei Bedarf die notwendige Flexibilität des Handelns, führt zur Risiko-Diversifikation und reduziert Überraschungen.

7. Fokussieren statt verzetteln: Wir müssen Komplexität beherrschbar machen. Im Zeitalter der „Dynexity“ – sich dynamisch entwickelnder, komplexer Sachverhalte – ist der Blick für das Wesentliche entscheidend. Weniger ist Mehr – dies gilt auch für die Gesetzgebung: Wir benötigen weniger Gesetze aber bessere, d.h. einfachere, transparentere, klarere Regeln, die dem gesunden Menschenverstand entsprechen und die im Streitfalle ohne juristische Spitzfindigkeiten schnell einer Entscheidung zugeführt werden können.

8. Think global – act local! Wir müssen Zukunftskonzepte zunehmend international ausrichten. Das gilt für wenige Themen so sehr, wie für das Thema des Klimawandels. Wenn es auf diesem Feld nicht zu transparenten, gut abgestimmten, nachvollziehbaren Regelungen und Vereinbarungen kommt, werden langfristig alle verlieren. Insofern ist die Gründung des G7-Klima-Clubs ein richtiger und wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung.

9. Vertrauen wir der Kraft des Marktes! Die Bewährung unterschiedlicher Zukunftskonzepte sollte im Wettbewerb nach marktwirtschaftlichen Regeln erfolgen, getreu dem Motto: „Das Bessere ist des Guten Feind.“ Dies erfordert übrigens unternehmerischen Mut, auch das Risiko des Scheiterns im Markt in Kauf zu nehmen!

10. Es gibt nichts Gutes – außer man tut es! Wenn die deutsche und europäische Wirtschaft erfolgreich transformiert werden soll, müssen wir alle als Beteiligte in Deutschland und in Europa die Ziel- und Planungs-Kakophonie beenden und subsidiär koordiniert zu abgestimmtem Handeln übergehen. Dies geschieht nicht von selbst, dies geschieht nicht durch bürokratisches Handeln – dies geschieht nur auf Basis eines gemeinsamen balancierten Zielsystems, hinter dem sich eine große Mehrheit der Menschen in Europa versammeln kann, und es wird nur geschehen, wenn starke, sichtbare und glaubwürdige Führungspersönlichkeiten diesen Transformationsprozess mutig und beherzt treiben!

Meine sehr geehrten Damen und Herren – haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.